Chieh-jen CHEN





Chen Chieh-Jen – geboren 1960 in Taoyuan, Taiwan – lebt und arbeitet derzeit in Taipei, Taiwan. Er organisierte außerinstitutionelle Untergrund-Ausstellungen und Kunst-Aktionen im Guerilla-Stil, um die herrschenden politischen Mechanismen Taiwans während der Zeit, die durch den kalten Krieg, Antikommunismus-Propaganda und Kriegsrecht gekennzeichnet war, anzugreifen. Nach Beendigung des Kriegsrechts 1987 stellte er seine Kunstaktionen für acht Jahre ein. Im Jahr 1996 kehrte Chen zur Kunst zurück und begann eine Zusammenarbeit mit Arbeitslosen, Tagelöhnern, Gastarbeitern, in Taiwan verheirateten Ausländern und mit Gesellschaftsaktivisten.
Sie besetzten private Fabriken, drangen heimlich in behördlich gesperrte Gebiete ein und verwendeten dort zurückgelassene oder ausrangierte Materialien und Gegenstände, um Bühnenbilder für Videoarbeiten zu bauen. Um die gegenwärtige Wirklichkeit und eine durch Neoliberalismus verfälschte Volksgeschichte zu visualisieren, begann er eine Reihe von Videoarbeiten, bei denen er Strategien verwendete, die er „Neu-Vorstellen, Neu-Erzählen, Neu-Schreiben und Neu-Verbinden“ nennt. Seine Arbeiten wurden bereits als Einzelausstellungen in Taiwan gezeigt, aber auch im Ausland, wie etwa in Paris, Luxemburg, Hong Kong, Beijing, Los Angeles, Madrid und New York. Er hat auch an verschiedenen internationalen Biennalen sowie Gruppenausstellungen teilgenommen.



Grenzen des Imperiums I

Chen Chieh-jen, 2008-2009
35mm übertragen auf DVD, Farbe u. S/W, Ton, 26 Minuten 50 Sekunden, Einzelkanal, Endlosschleife + Dokumentation

Zusammenhang und Einführung


Inspiriert wurde Empire’s Borders I durch eine Erfahrung, die Chen Chieh-jen machte, als man ihn einlud, an einer Kunstausstellung in New Orleans mitzuwirken, und er dafür ein U.S.-Nicht-Einwanderungsvisum beantragte.1 Während eines Visum-Interviews im Amerikanischen Institut in Taiwan (AIT),2 warf man ihm vor, in den USA illegal bleiben zu wollen, woraufhin sein Antrag abgelehnt wurde.3 U.S.-Bürger dürfen im Gegensatz dazu jederzeit ohne Visum nach Taiwan reisen. Wenn Bürger Taiwans – sowie Bürger von vielen anderen nichtwestlichen Staaten – in die USA reisen wollen, müssen sie zahlreiche Dokumente einreichen, u. a. Belege dafür, dass sie über entsprechende Finanzmittel verfügen, um nicht illegal in den USA bleiben zu wollen. Darüber hinaus müssen sie sich der Prozedur der Erhebung von Fingerabdrücken sowie auch einem diskriminierenden, von einem Konsularbeamten durchgeführten Interview unterziehen. Die Fingerabdrücke werden Teil eines Dossiers, mit dem die U.S.-Regierung Besucher kontrolliert.

Um gegen das seit langem bestehende, unfaire, kolonialartige Visumsystem zu protestieren, fing Chen an, einen Blog mit dem Titel The Illegal Immigrant [Der illegale Einwanderer] zu verfassen. Der Blog ermutigte andere, die bei AIT-Interviews ebenfalls Diskriminierung und herabsetzende Äußerungen erlebt hatten, dazu, ihre Erfahrungen mitzuteilen, und diente somit als Diskussionsforum über die strukturelle Basis eines diskriminierenden Systems sowie auch darüber, wie es geändert werden könnte.


Die Postings im Blog benutzte Chen dann, um sein Video Empire’s Borders I zu entwickeln, das aus zwei Teilen besteht. Der erste Teil dokumentiert acht typische Fälle von taiwanesischen Bürgern, die beim AIT einen Antrag auf ein Nicht-Einwanderungsvisum stellten, von Konsularbeamten verunglimpft und dann aus nicht genannten Gründen einen ablehnenden Bescheid erhielten.4 Im zweiten Teil wird die Notlage von acht Festland-Chinesen geschildert, die nach Taiwan gekommen sind, um mit dem taiwanesischen Ehepartner zu leben. Das Video beginnt mit den Einreise-Interviews am Flughafen und führt dann durch die verschiedenen Formen von Überwachung und Diskriminierung, die sie seitdem seitens der taiwanesischen National Immigration Agency erlebt haben.5


Die kontrastierenden Beispiele, die im Video präsentiert werden, spiegeln die globalen Machtgefüge unter unabhängigen Staaten und die Grenzkontrollprozeduren der stärkeren Nationen sowie ihre Reglementierung und Disziplinierung der Bürger schwächerer Nationen wider. Das Video kritisiert die taiwanesische Regierung wegen ihrer festgefahrenen, an die Verhältnisse im Kalten Krieg erinnernden Ideologien sowie wegen der Strategien, die sie im Umgang mit den eher im Macht-Abseits stehenden Bürgern aus anderen Regionen einsetze.


Um das Video zu verwirklichen, baute Chen die Interviewräume im AIT sowie die entsprechenden Räume der Nationalen Einwanderungsbehörde (NIA) am Flughafen als Kulisse nach, um diese rechtsfreien, durch Staatsautorität für nichtöffentlich deklarierten Räume sicht- und hörbar zu machen. Im ersten Teil des Videos ließ Chen Schauspieler von der taiwanesischen Kleinbühnenbewegung die im Blog geposteten Berichte quasi als Reportage vortragen. Im zweiten, in der Kulisse der Interview-Räume am Flughafen gefilmten Teil treten die tatsächlichen Ehepartner vom Festland auf, um von der inhumanen Behandlung, die ihnen bei der NIA zuteil wurde, aus erster Hand zu berichten.6 Die verschiedenen Monologe, aus denen das Video besteht, sorgen dafür, dass Stimmen, die einst durch Staatsautorität vertuscht wurden, nunmehr in Dialog mit den Zuhörern treten dürfen. Das Video deckt auch die transnationalen Bewegungen des Kapitals auf und entlarvt dabei die Kontrolle, Manipulation and Plünderung von akkumuliertem Kapital und vom Mehrwert der Arbeit in verschiedenen Regionen seitens der global herrschenden Klasse mittels Rahmeninstitutionen wie die Welthandelsorganisation im Kontext von Laisser-faire und Neoliberalismus. Chen erhofft sich eine gelungene Bewusstseinsmachung bezüglich der Beherrschung, Disziplinierung und Kontrolle von Bürgern aus finanzschwächeren Regionen im Namen der neuen Weltordnung, des Anti-Terror-Netzwerks und der Grenzkontrollpolitik diverser Nationen.


Chen schuf The Illegal Immigrant und Empire’s Borders I, um die zahlreichen Beispiele von Diskriminierung sowie die Handlungsebenen der Vergangenheit neu zu visualisieren, die dank den Mechanismen der Staatssouveränität verdeckt oder unaufgeschrieben blieben. In der Serie werden die Erinnerungen dieser Menschen gesehen, gehört und für eine Neueinschätzung dargeboten, was als eine Art Aktivismus, als erster Ansatz zur Beseitigung imperialistischer Ideologien dienen soll.

Nachwort


Seit 1950 hat Taiwan den Status einer untergeordneten Region unter der Vorherrschaft der U.S.A.7 Seit 30 Jahren, beginnend mit der Aufhebung des von der taiwanesischen Regierung verhängten Reiseverbots im Jahre 1979, brodelten leise die Ressentiments gegen AIT, aber erst als Chen 2009 seine aktivistischen Werke The Illegal Immigrant und Empire’s Borders I veröffentlichte, kam es zu einer öffentlichen Debatte über die unfaire, kolonialartige Visumpolitik der U.S.A. Indem sie den diskriminierenden Sprachgebrauch der AIT-Konsularbeamten und die nicht nachvollziehbare Ablehnung von Visumsanträgen vorführt, dokumentiert Chens Serie das kollektive Gedächtnis des taiwanesischen Volkes.

Im Februar 2010 richtete AIT eine offizielle Facebook-Seite ein, die bald von einer Flut an Beschwerden über die U.S.-Visumspolitik gefüllt wurde. Später löschte AIT sämtliche negativen Bemerkungen von seinem Facebook-Konto.8

Erst nachdem die taiwanesische Regierung sich bereit erklärte, ein teures U.S.-Waffenpaket sowie auch angeblich rinderwahnverseuchte nichtentbeinte Rindfleischprodukte und Innereien zu kaufen – beide Transaktionen waren ja für die U.S.A. vorteilhaft – und darüber hinaus sieben Bedingungen der U.S.-Antiterror-Strategie erfüllte, zu denen die Ausgabe von biometrischen Reisepässen, der Austausch von Geheimdienstdaten über ein neu zu installierendes Informationsübertragungssystem und die Implementierung des Elektronischen Systems für Reisegenehmigung gehörten, gab AIT am 22. Dezember 2011 bekannt, dass Taiwan für das Visa Waiver Program (VWP) – d.h. das Programm zur Befreiung von der Visumspflicht – in Frage käme. Am 2. Oktober 2012 gab das U.S. Department of Homeland Security bekannt, dass taiwanesische Bürger mit Wirkung vom 1. November 2012 unter den Bedingungen des VWP in die U.S.A. reisen dürften.
Chen ist der Ansicht, dass „obwohl Taiwan zu einem VWP-Land wird, jeder Mensch der Welt nach wie vor unter dem System des U.S.-geführten Neoliberalismus sowie in der neuen Weltordnung und dem Anti-Terror-Netzwerk leben muss, was gleichbedeutend mit zunehmender Kontrolle durch vernetzte Technologie wie etwa durch biometrische Reisepässe, den Austausch von terrorrelevanten Geheimdienstdaten, das System der Reisegenehmigungspflicht und das Sammeln von biometrischen Daten, etwa durch Fingerabdrucke, ist. Nachdem sie lange durch andere dominiert und unterjocht wurden, müssten die Taiwaneser sich mehr denn je aus tiefer Überzeugung und auf breiter Front mit anderen Menschen in der ganzen Welt zusammentun, die reglementiert und marginalisiert werden, um auf der Grundlage der eigenen Erfahrung von Diskriminierung durch vernetzte Aktionen neue Befreiungsstrategien zu entwickeln.”


1 Chen Chieh-jen wurde eingeladen, an der ersten New Orleans-Biennale nach dem Hurrikan Katrina teilzunehmen. Thema war der Wiederaufbau von New Orleans.

2 Gemäß dem “Taiwan Relations Act“ (einem innerstaatlichen U.S.-Gesetz) wurde das American Institute in Taiwan am 1. Januar 1979 ins Leben gerufen, um die U.S.-Hegemonie im Pazifikraum aufrechtzuerhalten, nachdem die offizielle diplomatische Anerkennung von Taiwan auf die Regierung der Volksrepublik China übertragen wurde. Als gemeinnützige, außerbehördliche Organisation liefert AIT Dienstleistungen inkl. das Bearbeiten von Visa-Anträgen für taiwanesische Bürger.

3 Laut einer Pressemitteilung der Taiwan Central News Agency vom 30. September 2008 ließ AIT wissen, dass Chieh-jens Äußerungen zu diesem Vorfall nicht den Fakten entsprächen.

4 Postings im Blog The Illegal Immigrant lassen schließen, dass die meisten Visen alleinstehenden Frauen, die studiert hatten, Englisch sprechen konnten und keinerlei Anlagevermögen hatten, verweigert wurden.

5 Nach der Verfilmung von Empire’s Borders I ließ die taiwanesische Regierung Yuan am 9. Juni 2009 den „Act Governing Relations between the People of the Taiwan Area and the Mainland Area“ novellieren, wobei die Wartezeit bei Ausweisen für Festland-Ehepartner von acht auf sechs Jahre reduziert wurde. Das Gesetz schreibt ebenfalls vor, dass Festland-Ehepartner, die legal nach Taiwan einreisen, nicht mehr zwei Jahre warten müssen, bis sie eine Arbeitserlaubnis beantragen dürfen, sondern die Erlaubnis gleich bei der Einreise erhalten. Was die grundlegenden Bürgerrechte anbelangt, werden Festland-Ehepartner aber nach wie vor im Vergleich zu den Bürgern anderer Länder streng behandelt.

6 Der zweite Teil von Empire’s Borders I wurde mit der Unterstützung der Marriage Association of the Two Sides of China [Eheverein der beiden Seiten Chinas] sowie von Festlandehepartnern, die möglicherweise noch unter der harschen Behandlung, die ihnen bei der NIA widerfuhr, zu leiden hatten, aber trotzdem bereit waren, über ihre Erfahrungen persönlich zu berichten, gedreht.

7 Belege zu der U.S.-Dominierung von Taiwan lassen sich in den gesammelten Berichten von Arbeiter-Aktivisten finden: Taiwan Economic History for Workers, hg. von dem Labor Affairs Bureau der Stadtregierung Kaohsiung. Zu der Unterwürfigkeit taiwanesischer Politiker den U.S.A. gegenüber, siehe die Berichte auf der Taiwan-Seite der WikiLeaks- Website (http://wikileaks.org/wiki/Category:Taiwan) oder den Band: Wikileaks–Taiwan, hg. von der China Times Publishing Company.

8 Einzelheiten dazu sind in einem Bericht vom 9. Februar auf der Website der TVBS-Internetnachrichten zu finden.



Grenzen des imperiums II
Western Enterprises Inc.

Chen Chieh-jen, 2010
35mm übertragen auf Blu-ray Disc, S/W, Ton, Dreikanal-Videoinstallation, Endlosschleife (70 Minuten 12 Sekunden Einzelkanalvideo & 5 Minuten 45 Sekunden Zweikanalvideo) + Dokumentation

Zusammenhang und Einführung


In den letzten Jahren ist in Taiwan eine größere Menge Propaganda im Rahmen einer Neuschreibung der Geschichte produziert worden. Das vom American Institute in Taiwan, von der taiwanesischen Regierung sowie von Forschungszenztren an wichtigen Universitäten des Landes verfasste Material verfolgt das Ziel, die US-amerikanische Kontrolle der politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen in Taiwan in der Zeitspanne von 1950 bis 1979 als zentralen, ermöglichenden Faktor für die Modernisierung des Landes sowie für den Aufstieg zur volkswirtschaftlichen Mündigkeit darzustellen. Unter Verwendung von zeitgenössischen Materialien aus Fernsehen, Presse, Buch, Dokumentarfilm und Kunstausstellungen haben die genannten Einrichtungen sorgfältig ausgewählte Geschichtsdaten, nostalgische Artefakte, Anekdoten und positive Zeitzeugenaussagen taiwanesischer US-Agenten aus den Jahren amerikanischer Einflussnahme präsentiert, um die Epoche als eine Zeit umzudeuten, an die noch gerne erinnert wird.

Wenn imperiale und staatliche Apparate Projekte zum Neucodieren oder Rekontextualisieren von Erinnerungskulturen leiten, sichern sie sich nicht nur das Recht auf eine Geschichtsrevision, welche die Legitimität der eigenen Herrschaft zu konstruieren vermag, sondern formen auch die Gedanken, die Wünsche und die Vorstellungswelten von Individuen um.

Liest man die Geschichte der einfachen Menschen1, so stellt man fest, dass die Jahre zwischen 1950 und 1979 in Taiwan nicht unbedingt eine Zeit waren, an die tatsächlich gerne erinnert wird. Nach Ausbruch des Koreakriegs 1950 ließen die USA, die in der letzten Phase des chinesischen Bürgerkriegs das Kuomintang-Lager nicht mehr unterstützt hatten, eine Seeblockade der Taiwan-Straße durch die Siebente Flotte durchführen, um die US-Hegemonie in der Pazifikregion aufrechtzuerhalten. Um die kommunistische Partei Chinas davon abzuhalten, PLA-Kräfte an die koreanische Front zu schicken, nahm die CIA außerdem erneut ihre Zusammenarbeit mit der Kuomintang-Regierung auf, die sich mittlerweile nach ihrem Rückzug vom Festland in Taiwan aufhielt. Zu ihren gemeinsamen Unternehmungen gehörte eine nicht-staatliche Handelsorganisation unter dem Namen Western Enterprises2, welche die antikommunistische Nationale Heilsarmee (National Salvation Army oder NSA) etablierte, um einen Überraschungsangriff gegen China lancieren zu können.3 Unter den Bedingungen des Gemeinsamen Verteidigungsabkommens (Sino-American Mutual Defense Treaty) der Jahre 1954 bis 1979 unterstützten die USA die Kuomintang-Diktatur, deren antikommunistische kriegsrechtsähnliche Mechanismen sämtliche linksgerichtete Gruppierungen und politische Dissidenten in Taiwan zwischen 1949 und 1987 unterdrückten.4 Hinzu kam, dass im US-gelenkten Vertrag von San Francisco (1951) die Souveränität Taiwans ungesichert blieb, mit der Folge, dass das Land in einem ständigen Ausnahmezustand verharrte. Unter der Ägide der US-Militär- und Wirtschaftshilfe zwischen 1951 und 1965 wurde Taiwan zudem als logistischer Stützpunkt der US-Streitkräfte sowie als Standort für kostengünstige, aber schadstoff- und arbeitsintensive Industrien im Rahmen der kapitalischen Arbeitsteilung neu ausgerichtet. Im Zuge der durch ein antikommunistisches Erziehungswesen sowie durch die US-Propaganda des Kalten Krieges erfolgten Gehirnwäsche wurde Taiwan zu einem US-freundlichen, kommunismusfeindlichen Stützpunkt sowie zu einer kapitalistischen Gesellschaft.

Nachdem sich China ab 1978 einem neoliberalen Wirtschaftsreformprogramm zuwandte, wurde die Souveränität der Volksrepublik China 1979 von den USA anerkannt. Gleichzeitig verabschiedete der US-Kongress das „Taiwan Relations Act“ und brach somit die diplomatischen Beziehungen zur Republik China (Taiwan) ab, wodurch das Land sich wieder wie ein Territorialbesitz der USA in einem Ausnahmezustand befand. 1984 forcierte Taiwan unter dem immensen Druck angedrohter US-amerikanischer Handelseinschränkungen seine neoliberalen Maßnahmen zur Liberalisierung, Internationalisierung und Systematisierung der Wirtschaft. Gegen Ende des Kalten Krieges, als der Druck auf Taiwan, seine Märkte endlich zu liberalisieren und zu öffnen, noch erhöht wurde und der Ruf nach Demokratie nicht abklingen wollte, beendete die Kuomintang 1987 das seit 38 Jahren andauernde Kriegsrecht.

Nachdem dann 1995 die US-inspirierte Welthandelsorganisation gegründet wurde, trat Taiwan, das so lange der US-amerikanischen Disziplin, Verwaltung und Herrschaft unterworfen war, der Organisation im Jahr 2002 bei und wurde somit zu einer untergeordneten Region im System des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus. Unter dem Eindruck einer langfristigen Neucodierung und Rekontextualisierung ihrer Erinnerungskulturen durch imperiale und staatliche Apparate war die taiwanesische Gesellschaft ihrer Regionalgeschichte, ihres sozialen Gefüges, ihrer Volkserinnerungen sowie ihrer Vorstellungswelten beraubt worden.

Inspiriert wurde Empire‘s Borders II – Western Enterprises Inc. durch die Erfahrungen, die Chen Chieh-jens Vater als Mitglied des NSA machte. Als dieser 2006 starb, hinterließ er eine zum Teil fiktionalisierte Autobiographie, eine auf Papier festgehaltene Auflistung von NSA-Soldaten, die bei einem Überfall auf das Festland ihr Leben auf hoher See lassen mussten, eine alte Militäruniform und ein leeres Fotoalbum. Das Album hatte einst Bilder von Chiens Vater und NSA-Soldaten bei von Western Enterprises geleiteten Trainingsübungen enthalten, aber irgendwann hatte sie der Vater verbrannt.



Im Video bedient sich Chen Chieh-jen einer dichterischen Dialektik, indem er das Gebäude, in dem Western Enterprises damals untergebracht wurden, – ein Ort voller imperialistischer Referenzen –, in ein symbolisches Labyrinth, das sechzig Jahre taiwanesische Nachkriegsgeschichte verkörpert, sowie auch in ein Ödland, das die Amnesie des taiwanesischen Volkes versinnbildlicht, verwandelt.

Die Handlung des Videos lässt sich, wie folgt, resümieren. Ein Sohn mustert erneut Gegenstände, wie sie Chens Vater hinterlassen hat: ein leeres Fotoalbum, das keine Geschichte mehr verbürgen kann, eine reelle, aber unmöglich zu verifizierende Liste von auf See umgekommenen NSA-Soldaten, eine zum Teil fiktionaliserte, als Selbstanalyse verfasste Autobiographie sowie eine alte Militäruniform. Der Sohn begeht den Jahrestag vom Tod seines Vaters, indem er „Spirit“-Geld verbrennt und sich dann mitten im treibenden, wirbelnden Rauch die alte Uniform anzieht. So vereint er das eigene Bild und das des Vaters und kann die Reise zurück zu Western Enterprises antreten.

Der Sohn, der nunmehr den Vater darstellt, irrt ziellos durch verschiedene Bereiche der verwahrlosten Western Enterprises-Anlage, in der noch überall Spuren der U.S. Military Assistance Advisory Group (MAAG) zu finden sind.5 In verschiedenen Stockwerken des Gebäudes trifft er auf einen NSA-Soldaten, der vergeblich nach der eigenen Militärakte sucht, auf zwei nicht aktenkundige Opfer des weißen Terrors, die nicht in der Lage sind, das Haus zu verlassen, sowie auf arbeitslose manuelle Arbeiter und Tageslöhner, die unter zurückgelassener industrieller Gerätschaft eingeklemmt sind.6 Anschließend finden diese Menschen zusammen mit Gespenstern, die aus dem Geschichtsbild der imperialen und staatlichen Apparate ausgeklammert sind, ins MAAG-Auditorium des Hauses, wo sie sich auf der Bühne versammeln, als wären sie dabei, eine Kundgebung des Volksgedächtnisses und der populärenVorstellungswelten zu bilden, um sich gegen die Unterdrückungsmechanismen der von imperialen und staatlichen Mächten propagierten Geschichtsbilder zu wehren.7

Obwohl das Hauptquartier von Western Enterprises historisch verbürgt ist, gibt es keine Fotodokumentation des Hauses an sich. Das im Video verwendete Gebäude war in Wirklichkeit eine Chemiefabrik, die in den 1950er Jahren zur Zeit des US-amerikanischen Hilfsprogramms in Betrieb war. Die Szenen, die verschiedene historische Epochen versinnbildlichen sollen, wurden von Chen Chieh-jen sowie von Schauspielern und Arbeitern unter Verwendung von Gegenständen, die in der verlassenen Fabrik gefunden wurden, realisiert.

Übersetzt aus dem Englischen von Richard Humphrey


1 Für Beispiele taiwanesischer Geschichtsschreibung aus der Sicht des Volksgedächtnisses siehe die in Taiwan Economic History for Workers gesammelten Schriften von Arbeiteraktivisten. Der Band wird vom Labor Affairs Bureau der Kaohsiung City Government herausgegeben.

2 Western Enterprises unterlag dem Office of Policy Coordination [Büro für Politikkoordination], das Teil der globalen Geheimmission der CIA bildete und im Februar 1951 in Pittsburgh, Pennsylvania ins Leben gerufen wurde. Der Hauptsitz von Western Enterprises stand in der Zhongshan North Road in Taipei unweit dem jetzigen Standort des Museums für Bildende Künste, während die Stützpunkte für operative Aktivitäten sich auf den entlegenen Inseln Matsu und Kinmen befanden. Nachdem diese Phase der Aktivitäten von Western Enterprises zu Ende gegangen war, blieb die CIA ab 1955 nach wie vor in Taiwan tätig, allerdings unter anderem Namen.

3 Die NSA wurde 1951 von Western Enterprises und der Kuomintang-Regierung gemeinsam gegründet. Hauptaufgabe der NSA war es, militärische Angriffe gegen das chinesische Festland zu starten sowie andere Störaktivitäten zu unternehmen. Die US- und KMT-Regierungen haben nie öffentlich zugegeben, dass die NSA einst eine staatlich legitimierte Organisation war. Die mittleren und niederen Ränge der NSA waren meist junge Männer, die aus ärmlichen Bauern- und Fischerfamilien rekrutiert wurden, die ursprünglich vom chinesischen Festland stammten. Diese Soldaten erhielten während ihrer Dienstzeit keinerlei Sold. Noch 2011, fast sechzig Jahre später, hat das Taiwanesische Verteidigungsministerium die Frage der unbezahlten Löhne aufgrund der unvollständigen Aktenlage nicht geklärt.

4 Sämtliche Gerichtsfälle, die mit Opfern des weißen Terrors während der Zeit des Kriegsrechts in Taiwan zu tun haben, harren der gerichtlichen Klärung. Nach offiziellen Schätzungen der Regierung wurden etwa acht tausend Opfer ermordet, weitere 140.000 bis 200.000 Opfer wurden von den Militärgerichten aus politischen Gründen entweder verurteilt oder eingesperrt.

5 Die Hauptaufgaben der U.S. Military Assistance Advisory Group waren es, Mechanismen zur Kontrolle der politischen, militärischen und finanziellen Angelegenheiten Taiwans aufzubauen sowie militärische Einsätze im Sinne der USA durchzuführen.

6 Bei den im Video auftretenden Schauspielern handelt es sich um Fabrik- und Zeitarbeiter, die ihre Arbeitsplätze als unmittelbare Folge der neoliberalen Politik der taiwanesischen Regierung verloren haben, sowie um Mitglieder der National Alliance Federation of Independent Trade Unions, also eines Gewerkschaftsdachverbandes, der nicht bei der Regierung registriert war.

7 Zusätzlich zu dem Hauptfilm dieser Dreikanal-Videoinstallation kommen zwei weitere Kurzfilme zur Vorführung. Der Film zur rechten Seite zeigt unbekannte NSA-Soldaten aus den mittleren und niederen Rängen. Der Film zur linken Seite enthält Porträts von Opfern des weißen Terrors.

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